Philosophen und Soziologen stellen in aller Nüchternheit fest, dass die moderne Welt ihre Rückbindung an die Transzendenz verloren hat. Damit entfaltet sich vor unseren Augen ein in der Geschichte der Menschheit einmaliges Drama: Die Resonanz zwischen (materieller) Welt und transzendentem Jenseits ist verstummt: Die Menschheit ist auf sich selbst zurückgeworfen.
Nun hat sich die Bestattungs- und Friedhofskultur im Verlauf der Menschheitsgeschichte an der Schnittstelle zwischen (materieller) Welt und Transzendenz herausgebildet, wobei der Friedhof diese Schnittstelle verkörperte – sichtbar für alle und doch über das Sichtbare hinausweisend.
Entfällt die Rückbindung an die Transzendenz, sind dem Friedhof und den Bestattungshandlungen ihre kulturellen Grundlagen entzogen. Wenn „Kultur“ aber das Gewebe ist, das den einzelnen Phänomenen und Handlungen ihren Sinn verleiht, befindet sich der Bereich der „Bestattungs- und Friedhofskultur“ in zunehmender Auflösung. Die einzelnen Elemente existieren zwar noch, aber sie brechen aus ihrem ursprünglichen Sinngefüge aus, verbinden sich mit neuen Elementen und bilden eine Vielfalt von Formen heraus, die in ihrer Summierung und auch Zufälligkeit keine „Bestattungs- und Friedhofskultur“ mehr sinnstiften können.
Doch was tritt an die Stelle?
Die Trends
Die Religion einer ihrer Transzendenz entledigten Welt ist die Ökonomie. Es ist also kein Zufall, dass sich die Ökonomie zur Leitwissenschaft entwickelt hat, die die gesellschaftlichen Handlungs- und Deutungsmuster prägt.
Dies bedeutet nicht, dass die Sehnsucht nach Transzendenz vollends verschwunden wäre. Ganz im Gegenteil: Das Ausharren in einer Welt, die ihre transzendente Schutzhülle verloren hat, löst die Suche nach einem Ersatz geradezu aus. Unter dem Aspekt der Ökonomie, die Sehnsüchte als Bedarfe begreift und in Angebote umzusetzen weiß, ist dies eine Chance – zum Beispiel für die Anbieter von Esoterik, diverser spiritueller Dienstleistungen und entsprechender Produkte.
Was ergibt sich aus diesen Überlegungen für die Zukunft der Bestattungs- und Friedhofsbranche?
1. Friedhof/ Bestattung stellen ein Marktsegment dar, für das im Prinzip die gleichen Regeln gelten wie zum Beispiel für die Bekleidungs- und Modebranche. Es geht darum, Bedarfe frühzeitig zu erkennen, Bedarfe zu stimulieren und in marktgerechte Angebote umzusetzen.
2. Der Ausdruck „Friedhofs- und Bestattungskultur“ hat vor allem PR-Wert. Er lässt Werte/ Tradition/ Vertrautheit anklingen, bleibt aber inhaltlich völlig offen und damit leer – so wie zum Beispiel der Ausdruck „Finanzkultur“ keinerlei Sinn mehr transportiert.
3. Langfristige (inhaltliche) Trends sind nicht zu erkennen. Der Markt wird die Trends bestimmen. Kunden werden aus einem sich weiter ausdifferenzierenden Angebot Dienstleistungen und Möglichkeiten auswählen und sich „ihr Begräbnis“ nach individuellen Bedarfen und Vorlieben zusammenstellen.
Neben Prämienangeboten, bei denen die Hochwertigkeit/ Unterscheidbarkeit der Leistungen entscheidende Kriterien sein werden, wird auf der anderen Seite der Preis zum wichtigsten Verkaufsargument.
4. Insgesamt wird der Tod keinen festen Platz mehr finden (wie ehedem auf dem Friedhof, der Schnittstelle zwischen Welt und Transzendenz). Der Tod (bzw. die Relikte) werden uns an allen möglichen Orten begegnen: In Gedächtnislandschaften, in Friedwäldern, in aus Asche gepressten Medaillons, in Urnen im Garten oder auf dem Regal – hier sind der Phantasie (auch der Vermarktungs-Phantasie) keine Grenzen gesetzt. Der nicht eingefriedete Tod wird viel stärker als früher – allerdings in latenter und zunehmend verdrängter Weise – unser Leben durchwirken.
Der Preis
Natürlich hat die Erodierung der Friedhofs- und Bestattungskultur zugunsten einer konsequenten Marktorientierung ihren Preis – genauso, wie der Ausbruch der Finanzmärkte aus dem Korsett einer als zu eng empfundenen Finanzkultur einen Preis hat, dessen Bedeutung wir erst allmählich begreifen. Wir können also davon ausgehen, dass die Befreiung der Friedhofs- und Bestattungskultur aus den gesetzlichen Restriktionen Auswirkungen haben wird, die zum jetzigen Zeitpunkt kaum überschaubar sind – nicht zuletzt auf die Psyche der Menschen. Unter dem Primat der Ökonomie ist dies allerdings eine weitere Chance zur Platzierung entsprechender psychologischer Dienstleistungen.
Hoffnung
Bleibt nur zu hoffen, dass nicht alle den oben skizzierten Entwicklungen folgen – obwohl es für den einzelnen Unternehmer im Friedhofs- und Bestattungsbereich kaum möglich sein dürfte, gegen den Strom zu schwimmen, ohne seine Existenz zu gefährden. Die Kirchen aber könnten dem zu erwartenden Mainstream bewusst ihre auf langer kultureller Erfahrung basierenden Alternativen entgegensetzen. Die Kirchen würden damit zum Hüter eines kostbaren Gutes – vergleichbar mit jenen Instituten, die alte Getreidearten sorgfältig aufbewahren und für die Zukunft retten.
Denn es könnte eine Zeit kommen, in der solche Ressourcen überlebenswichtig werden.
Freiburg, 14. Juli 2011
Jörg Bollin / Burkhard Krupp